Kesselzerknall 01 1516-2

Ein Kesselzerknall gehört zweifelsohne zu den größten Unfällen bei der Eisenbahn. Trotz verbesserter Kesselbaustoffe und immer wieder überarbeiteter Bedienungsvorschriften gab es auch bei der Deutschen Reichsbahn (DR Ost) einige dieser Unfälle. Hier gehe ich auf den Kesselzerknall der 01 1516-2 in Bitterfeld näher ein. Durch eine Abschrift einer internen DR-Schreibens haben wir Einblicke, die vom üblichen Wikipedia-Text doch abweicht und neue Einblicke erlaubt. Einige Fotos von diesem Unfall gibt es im Internet - einfach mal danach suchen.

Zur Lokgeschichte: Am 13.12.1934 erfolgte die Auslieferung der bei KRUPP gebauten 01 117. Die Abnahme durch die DR erfolgte am 20.12.1934, erstes Bw war >Berlin Anhalter Bf<. Das Kriegsende überlebte 01 117 immer noch im Bw Anhalter Bf, zwischen 1945 und 1951 gehörte sie zur Kolonne 42, Brest. Vom 18.05.1963 bis zum 31.08.1963 befand sich 01 117 im RAW Meiningen zur Rekonstruktion. Am 31.08.1963 erfolgte die Umzeichnung in 01 516. Bis auf acht Monate (buchmäßiger) Beheimatung im Bw Bln-Schöneweide war 01 516 immer im Bw Ostbahnhof beheimatet.

Mit dem Kesselzerknall am 27.11.1977 erfolgte schon einen Tag später die Abstellung und die Z-Stellung erfolgte am 01.12.1977. Eine Aufarbeitung machte im Zustand nach dem Unfall keinen Sinn mehr, nicht nur der Kessel und das Führerhaus waren völlig zerstört, auch der Barrenrahmen war verbogen (Katzenbuckel). Am 04.01.1978 erfolgte die Ausmusterung gemäß Ausmusterungsprotokoll 1/78. Bis zum 06.04.1978 wurde das, was von 01 1516-2 noch übrig war, vor Ort in Bitterfeld bzw. Halle/S. zerlegt.

Die 01 1516-2 war die erste Lok der 35 Reko-01er, die ausgemustert wurde.

Es ist wohl ein in der deutschen Eisenbahngeschichte einmaliges Geschehen, das EIN Lokpersonal in EINER Dienstschicht ZWEI Lokomotiven auf die gleiche Art "geschrottet" hat.

D 562

Zuglauf: Plauen - Leipzig- Berlin

Verkehrshalte: Plauen - Reichenbach ob. Bf. - Werdau - Chrimmitschau - Gößnitz - Altenburg - Leipzig - Berlin Schönefeld - Berlin Schöneweide

Auch die auf der Hinfahrt mit dem D 562 nach Berlin genutzte BR 03 entging ebenfalls durch "Feuer ohne Wasser" nur knapp einer Katastrophe. Zwischen Lutherstadt Wittenberg und Jüterbog wurde die Lok "trockengeheizt", allein das Ausblasen der Schmelzpfropfen verhinderte hier das Unglück. Der D 562 (incl. der schadhaften BR 03) wurde dann von einer BR 118 nach Berlin Schöneweide gezogen (in anderen Quellen wird der Kesselschaden bei der 03 erst in Berlin festgestellt). Und auch 03 2121 kam nach diesem Vorfall nicht wieder in Fahrt und wurde schon am 21.12.1977 z-gestellt. Warum die Schmelzpfropfen bei der 01 1516 nicht ausgeblasen haben, wird weder im Untersuchungsbericht noch an anderer Stelle erwähnt.

D 567

Zuglauf: Berlin - Reichenbach ob. Bf.

Verkehrshalte: Berlin Schöneweide - Berlin Schönefeld - Luckenwalde - Jüterbog - Lutherstadt Wittenberg - Bitterfeld - Leipzig - Altenburg - Gößnitz - Chrimmitschau - Werdau - Reichenbach ob. Bf.


wörtliche Abschrift

Ministerium für Verkehrswesen Berlin, den 31.03.78

Hv der Maschinenwirtschaft

der Deutschen Reichsbahn

Informationsmaterial

Für die spezifische Auswertung des Kesselzerknalls an der Lok 01 1516-2 im Bahnhof Bitterfeld am 27.11.1977

1. Situation am Ereignisort

Am 27.11.1977 wurde der D 567 mit der Lok 01 1516-2 von Berlin nach Leipzig befördert. Während der Einfahrt in den Bahnhof Bitterfeld kam es um 16,08 Uhr zu einem Kesselzerknall.

Am Havarieort wurde die durch den Kesselzerknall zerstörte Lokomotive 01 1516-2 vorgefunden, wobei der Kessel etwa 35 m vom Fahrgestell entfernt lag. Aus den Beschädigungen an der Bahnsteigüberdachung ist zu schließen, daß der Kessel von der Stelle, an der der Zerknall eintrat, bis zu der vorgefundenen Lage etwa 80 m zurückgelegt hat.

Die Feuerbuchse des Kessels weist infolge des Zerknalls umfangreiche Zerstörungen auf. Sie war abgerissen, wobei an der Decke 3 Risse festgestellt wurden, die quer zur Längsachse des Kessels verliefen. Die linke Seitenwand in Bereich der vierten Stehbolzenreihe von oben, die rechte Seitenwand im Bereich der 10. Stehbolzenreihe von oben längs aufgerissen. Die Decke war nach unten aufgeklappt. Die Schweißnähte der Deckenstehbolzen waren abgeschert.

Die Seitenwände und die Rückwand des Stehkessels waren leicht nach außen gedrückt. Außerdem war die Rauchkammer durch den Aufprall stark deformiert.

Der Tender stand ohne Wasser - noch gekuppelt mit dem Fahrgestell der Lokomotive - auf Gleis 3. Die Wasserabsperrventile am Tender waren geschlossen und der Wasserstandsanzeiger stand auf Null. Die Wasserverbindungsschläuche hingen lose herunter. Ausgelaufenes Tenderwasser konnte nicht festgestellt werden.

2. Ergebnis der Untersuchung

Die Sicherheits-, Kontroll und Versorgungseinrichtungen waren voll funktionstüchtig und es war zu schlußfolgern, daß durch deren Arbeitsweise ein Einfluß auf den Kesselzerknall bestand. Das Schließen der Wasserabsperrhähne war durch vom Tender herabrutschende Kohle verursacht worden.

Die stark deformierte Feuerbuchse wurde einer eingehenden Überprüfung unterzogen. Die Färbung des Materials ließ erkennen, daß eine außergewöhnliche Wärmeeinwirkung stattgefunden hatte.

Die Feuerbuchse bestand aus dem Werkstoff 14 Mn 2, einer als Kesselbaustoff geeigneten Stahlsorte.

Die noch unbeschädigten Teile der Feuerbuchse befanden sich in einem guten Zustand

Kesselsteinablagerungen waren nicht vorhanden. Die Schweißnähte haben allen Belastungen standgehalten und waren sachgerecht ausgeführt. Die Schweißnähte der Deckenstehbolzen waren abgeschert, was auf eine ungewöhnlich hohe Wärmebeeinflussung zurückzuführen ist.

Bei normaler Feuerführung herrschen in der Feuerbuchse etwa 1600 °C. Über die durch das Kesselwasser gekühlten Feuerbuchswände und die anderen Bauelemente der Verdampfungsheizfläche, die bei dieser Untersuchung nicht mit in Betracht gezogen werden., wird die Wärme an das Kesselwasser abgegeben. Dabei beträgt die Temperatur der Feuerbuchswandung an der Feuerseite etwa 260 °C und an der Wasserseite etwa 203 °C. Fehlt die Kühlung der Feuerbuchswandungen durch das Kesselwasser, so kommt es zur übermäßigen Erhitzung des Materials. Durch Vergleichsproben mit Proben aus dem übermäßig erhitzten Feuerbuchsmaterials und dem durch Wärmeeinwirkung normal beanspruchten Material - Seitenwände die noch durch Kesselwasser gekühlt wurden - konnten vom Staatlichen Amt für Technische Überwachung, Wissenschaftlich-Technische Leitstelle, Labor Halle, annähernd genaue Werte über die Wärmebeeinflussung des Feuerbuchsmaterials ermittelt werden.

Es wurden festgestellt:

- Die Temperatur des überhitzten Materials der Feuerbuchsdecke lag über 738 °C.

- Bei einer Temperatur von 700 °C vermindert sich die Zerreißfestigkeit des Stahles von 52 kp/mm² (bei Raumtemperatur) auf 9 kp/mm².

- Um die Temperatur von 738 °C zu erreichen, muß die Feuerbuchsdecke mindestens 4 Minuten vom Wasser entblößt sein.

3. Ursache des Kesselzerknalls

Der Lokomotivkessel wurde mit einem unzulässig geringen Wasserstand betrieben, so daß die Decke der Feuerbuchse nicht mehr durch Wasser gekühlt wurde. Es lag Wassermangel vor. Dadurch trat eine Überhitzung der Feuerbuchsdecke und der Umbüge zu den Feuerbuchswänden mit einer gleichzeitigen Verminderung der Festigkeit des Materials ein. Begünstigt durch die Fahrt im leichten Gefälle von Muldenstein bis Bitterfeld drückte das Kesselwasser nach vorn und die Feuerbuchsdecke lag frei.

In Folge des Bremsvorganges für den Halt im Bahnhof Bitterfeld wurde durch die Eigenbewegung des noch vorhandenen Kesselwassers die überhitzte Feuerbuchsdecke überspült. Das verursachte eine plötzliche starke Dampfentwicklung durch die erhöhte Wärmeabgabe an das Kesselwasser, verbunden mit einer Druckerhöhung über den höchstzulässigen Betriebsdruck hinaus. Diese ungewöhnliche Belastung des Materials führte zum Aufreißen der Feuerbuchsdecke.

Da nunmehr der Druck im Kessel einen Ausgleich mit der freien Atmosphäre erfuhr, konnte in sehr kurzer Zeit die im Kessel enthaltene Energie frei werden. Bei der Annahme, daß bei entblößter Feuerbuchsdecke noch 9 m³ Wasser im Kessel enthalten waren, ergeben sich bei einem Kesseldruck von 16 kp/cm² Ü 930150 kcal. Dabei werden insgesamt 1722,5 kg Dampf erzeugt (*1). Diese Dampfmenge benötigt einen Rauminhalt von rund 3000 m³, die durch den ausströmenden Dampf entstehende Rückstoßkraft hat den Kessel von seinen Verankerungen losgerissen und über die Entfernung von etwa 80 m fortgeschleudert.

4. Verhalten und Handlungen des Lokpersonals

Das Lokpersonal hatte auf der Hinfahrt den Auftrag, den D 562 mit der Lok 03 2121-5 von Leipzig nach Berlin zu befördern. Wegen technischer Mängel wurde die Lok entfeuert und in Berlin abgestellt (*2).

Für die planmäßige Rückleistung des D 567 von Berlin nach Leipzig erhielt deshalb das Personal die Lokomotive 01 1516-2 vom Bahnbetriebswerk Berlin-Ostbahnhof, Einsatzstelle Berlin-Lichtenberg..

Diese Lokomotive stand bis zur Übernahme durch das Personal 21 Stunden als “Schnellzugreserve” unter Feuer. Sie war betriebsbereit, jedoch wurden die in dieser Zeit verbrauchten Betriebsvorräte (Wasser und Kohle) nicht ergänzt (*3). Die Fahrt des D 567 wurde mit 7 min. Verspätung in Berlin-Lichtenberg begonnen. Bereits in Jüterbog war D 567 wieder planmäßig. In Bitterfeld kam D 567 wiederum 2 min. vor Plan an.

Auf Grund von Zeugenaussagen und der vorgefundenen Situation muß auf folgenden Fahrtverlauf von Muldenstein bis Bitterfeld geschlossen werden:

Nach dem Schließen des Reglers versuchte der Heizer mit der Dampfstrahlpumpe das fehlende Kesselwasser zu ergänzen. Da aber der Wasservorrat im Tender bereits erschöpft war, schlug die Dampfstrahlpumpe ab, wodurch die im Zug bemerkte Dampfwolke entstand. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Glühprozeß eingeleitet. Nach dem Einleiten des Bremsvorganges kam es zum Überspülen der glühenden Feuerbuchsdecke und zum Kesselzerknall. Zu diesem Zeitpunkt hätte das vermutlich beabsichtigte Wassernehmen und das Nachspeisen des Kessels in Bitterfeld unweigerlich zum Kesselzerknall geführt.

Der Tender der Lokomotive kann einen Wasservorrat von 34 m³ aufnehmen. Für die Fahrt von Berlin nach Leipzig werden bei normaler Fahrweise von der Baureihe 03 etwa 24 m³ Wasser verbraucht. Die Baureihe 01 hat auf Grund der höheren Leistung für den gleichen Zug einen Verbrauch von etwa 28 m³. Bei einer Standzeit unter Feuer von 21 Stunden und der kurzen Zugfahrt von 12 km wurden mindestens 5 m³ verbraucht. Das Abschlammen vor Fahrtantritt hat gleichfalls einen Wasserverbrauch von 1 m³ zur Folge. Die straffe Fahrweise des Lokführers und das Herausfahren der Verspätung des D 567 am 27.11.77 bedingen ebenfalls einen höheren Verbrauch an Betriebsstoffen, so daß der Wasservorrat im Tender bereits vor Muldenstein erschöpft war.

Der Lokführer hat gegen nachfolgende Vorschriften verstoßen:

Das nicht ausreichende Ergänzen der Betriebsstoffe stellt einen Verstoß gegen DV 938 § 5 (3), § 10 (1), (2) und (8) und Anhang VA (5) dar.

Während der Fahrt wurde gegen DV 938 Th 3 § 5 (1 und (2), § 6 (1) und (3) verstoßen.

Außerdem hat der Lokführer die ASAO 801 § 2 (2) und ASAO 820 § 3 (2) nicht beachtet.

Der Lokheizer hat gegen die Bestimmungen der DV 938 § 6 (1) und DV 938 Th 3 § 6 (1) und (3) verstoßen.

Der Kesselzerknall hätte nur verhindert werden können, wenn unmittelbar nach der Wahrnehmung des Wassermangels entsprechend DV 938 Th 3 (3) das Feuer unverzüglich vom Rost entfernt worden wäre. Das hätte auch während der Zugfahrt auf freier Strecke erfolgen müssen.

Es ist somit zweifelsfrei nachgewiesen, daß das Lokpersonal und in erster Linie der Lokführer als Verantwortlicher gemäß DV 938 § 5 (7) und als Ortsaufsichtsführender gemäß ASAO 351/2 durch unsachgemäße Dienstausübung und Nichtbeachten der Bestimmungen der DV 938 Zh 3 § 6 (1 und 3) den Zerknall des Kessels der Lok 01 1516 verusacht hat.

# Wörtliche Abschrift eines Originals. Ordnermappe der Tb-Gruppe Magdeburg.

Sammlung A.Gassmann


Zeitmangel als Ursache?

Ein leerer Wasserstand - diesen Anblick dürfte das Lokpersonal gehabt haben

Zwischen der planmäßigen Ankunft vom D 562 in Berlin Schöneweide um 11:02 Uhr und der planmäßigen Abfahrt vom D 567 in Schöneweide um 14:13 Uhr liegen gute drei Stunden. Im Normalfall ausreichend Wendezeit für Maschine & Personal.

Ausgehend vom angenommenen Umstand, das der D 562 mit schadhafter Zuglok BR 03 von einer BR 118 ab Jüterbog abgeschleppt wurde, darf man wohl damit rechnen, das der Zug eine "fette" Verspätung hatte. Durch die anschließende Gastfahrt vom Lokpersonal von Schöneweide nach Lichtenberg = reine Fahrtzeit mit der S-Bahn = 20 min plus Fußwege in Schöneweide und Lichtenberg plus Umsteigezeit in Ostkreuz, dürfte die Zeit nur so verflogen sein. Auch die Lz-Fahrt von Lichtenberg nach Schöneweide brauchte seine Zeit. Und so begann D 567 seine Fahrt mit 7 min Verspätung ab Schöneweide.

Doch kein Ereignis auf dieser Welt und kein Zeitdruck rechtfertigt das - fahrlässig oder wissentlich - Unterlassen von der Nachschau der Vorräte und bei Bedarf auch deren Ergänzung.


*1: Hier irrt der Bericht etwas. Denn aus einem Kubikmeter Wasser entstehen rund 1.700 Kubikmeter Dampf. Bei angenommenen 9 m³ Wasser im Kessel entstehen also binnen weniger Sekunden 15.300 m³ Dampf. Die im Bericht genannten Zahlen gelten für EINEN Kubikmeter!

*2: Hier liegt eine weitere Ursache zum Unfall. Die 03 2121 wurde mit Kesselschaden in Berlin abgestellt. Hätte hier der Werkmeister seine Aufgaben ernst genommen und die abgestellte, als schadhaft gemeldete Lok SOFORT untersucht, wäre sicher das Lokpersonal vom Dienst abgezogen und als Fahrgast nach Leipzig beordert worden. Aber der 27.11. war ein Sonntag, und da gehen auch bei der DR die Uhren etwas langsamer. So wurde die deformierte Stehkesseldecke und der ausgeblasene Schmelzpfropfen bei der 03 erst einige Zeit später festgestellt. Beide Schäden sind eindeutige Anzeichen für eine Feuerführung mit einem zu niedrigem Wasserstand.

*3: Die 01 war mit einem Tender 2'2' T34 gekoppelt. Er fasst neben 10 Tonnen Kohle auch 34 m³ Wasser. Nach Überlieferungen erfahrener Lokpersonale braucht eine 01 mit einem Schnellzug von Berlin nach Leipzig etwa 28 m³ Wasser. Es bleiben also rund 6 m³ Wasser im Tender als Reserve. Da die 01 als "Bockreserve" nur mit einem Ruhefeuer steht, dürfte das letzte Wasserfassen (=Tender voll) auch in etwa mit den angegebenen 21 Stunden Standzeit überein stimmen. Es fehlten mutmaßlich also mindestens diese 6 m³ Wasser im Tender. Das Nachfüllen dieser Wassermenge hätte im Bw etwa 6 Minuten gedauert.

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